16
Jun
2012

Noch einmal

Noch einmal große Kultur spielen, sich tagelang aufs Seminar vorbereiten, noch einmal mit Schiller den philosophischen Kopf gegen den Brotgelehrten ausspielen, Texte nicht bloß kopieren und hunderte wild durcheinander wirbelnder Seiten durcharbeiten, sondern sie zu genießen wissen, sich von seinem Dämon einflüstern lassen, an welchen Stellen es innezuhalten und zu verweilen gelte, sich noch einmal mit einem Autor des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts identifizieren, als wäre er ein Zeitgenosse, ihn lesen, erraten, lieben lernen, noch einmal erfahren, wie heilsam ein gutes Buch zu wirken vermag, noch einmal gegen den Unsinn aufbegehren, den Studenten gewohnheitsmäßig von sich geben und sie zur Rede stellen wie der Wächter eines Heiligtums, noch einmal sein unterernährtes Herz ganz dem deutschen Idealismus aufschließen und all jenen wahnwitzig großartigen Spekulationen nachspüren, ohne dabei zu fragen, ohne überhaupt fragen zu können, wozu eigentlich, sich noch einmal dabei ertappen, wie die Lektüre großer Meister den eigenen Stil beschwingt, beseligt und verflüssigt, sich noch einmal in den Gedanken verlieben, dass es möglich sei, seine Zukunft ganz auf den intimste Erschütterungen und Erleuchtungen seiner Seele fußen zu lassen, einmal nicht historisieren, psychologisieren, kritsieren, kontextualisieren, mit einem Wort: einmal den Dingen nichts von ihrer Würde tödlich entreißen, sondern sie - Oh mein Gott! - zu verstehen trachten, noch einmal sein Leben daran setzen, einen Satz Hölderlins zu verstehen, sich noch einmal bewusst machen, zu welch unerhörten Dingen die Samen in einem angelegt sind, zu was man eigentlich fähig wäre, wenn man nur endlich aufhörte, der eigenen Stimme, einer leicht heiseren, zart gebrochenen, keinesfalls aber gebrechlichen Stimme, davonzulaufen, sondern sich ein Ohr wachsen ließe für ihre Einflüsterungen, sich noch einmal dem Schlaf der Welt entreißen, noch einmal all die schalen Kompromisse von sich abstreifen wie ein Schlangentier seine alte Haut, um sich verjüngt und gereinigt wiederzugewinnen, noch einmal zum Lyriker, zum Dramatiker und schwärmerischen Naturforscher werden, der im Gras unter Bäumen liegt, um den Himmel zu studieren, die Wolken, den Wind zu spüren, sich ganz eins mit einer Erde fühlend, die letztlich doch zu mächtig ist, als dass der Mensch sie jemals zerstören könnte, noch einmal ein paar feurig-trotzige Zeile niederschreiben, die beweisen, dass man mit dieser Welt noch nicht fertig ist - um schließlich Seite 137 bis 149 so zu transkriptieren und auszudrucken (mit Deckblatt, versteht sich), wie es der Seminarleiter, ein wahrer Detailsadist, für 4CP nun einmal verlangt.

Selbstaneignung

Man muss sich selbst ein Rätsel (und damit interessant) zu bleiben wissen. Der Verzweifelte hat jede Ehrfurcht vor sich verloren: er weiß, wer er ist. Irgendetwas muss man sich zurückbehalten, aufsparen und vor seinen eigenen neugierigen Blicken verbergen, etwas, das sich nicht der Sonne der Raison aussetzen muss und gerade deshalb bestens gedeiht. Es ist nicht möglich, sich selbst zu erkennen, sich also ganz in das Objekt seines eigenen Denkens zu verwandeln: die Taschenlampe kann sich nicht selbst ausleuchten, soweit ihr Licht das Dunkel auch durchstoßen mag.

"Als du die Wahrheit suchtest, wonach sehnte sich dein Herz da? Nach deinem Herrn!", schreibt Max Stirner. Wer nach Wahrheit strebt, sucht sich durch etwas anderes zu gewinnen. Das Selbstbewusstsein des Wahrheitssuchenden wäre in jedem Fall ein vermitteltes, ihm äußerliches. Er wird stöhnen wie Faust in seinem Studierzimmer, denn er fühlt, dass er mit all seinen Erkenntnissen nicht gemeint ist. Die Wahrheit ist nicht treu; sofern sie zu beglücken vermag, beglückt sie jeden, der ihr auf ihren geheimnisvollen Wegen nachspürt. Daher sollte wir uns nicht fragen, ob es wahr oder falsch ist, was wir denken, sondern ob es tatsächlich unser Denken ist. Denken ist vor allem eines: Selbstaneignung. Viele Widersprüche des Kopfes beruhen darauf, dass das Leben widersprüchlich ist; und deshalb wäre es unredlich, das Nirvana eines allberuhigenden Konsenses anzustreben. So sitze ich hier in gelassener Erwartung der Stürme, die ich gesät habe.

Es liegt an dir!

Dein Leben legitimiert sich, wenn überhaupt, erst im Ganzen. Du kannst jetzt noch nicht wissen, was es bedeutet, 30, 40, 50 Jahre alt zu sein, oder wie es ist, faltige, von dünner gelblicher Haut überzogene Hände im Sonnenlicht zu wärmen. Ich wünsche dir von Herzen, dass du später einmal, in einer ruhigeren Stunde, auf deine derzeitige Existenz, auf genau diesen Dienstag und die mit diesem zusammenhängende Unschlüssigkeit darüber, wie du diesen Text eröffnen solltest, ohne bitteren Nachgeschmack zurückblicken wirst können. Dass du dir an jenem unbekannt fernen Tage das, was du jetzt dein Leben, dein ganzes Leben nennst, mit anderen, nämlich milderen und vor allem dankbareren Augen ansehen kannst; als nur ein, wenn auch in recht dunklen Farben gehaltenes Kapitel neben anderen. Schopenhauers Diktum, dass alle Dinge herrlich zu sehn, aber schrecklich zu sein seien, lässt sich auch auf die Vergangenheit anwenden. Wer vermöchte heute schon zu sagen, zu welch rührigem Gegenstand seine soeben herausgeschriene Verzweiflung einmal in seiner Erinnerung werden könnte? Was immer du hier eigentlich tust, die vielen Zeugnisse deiner manischen Wachheit werden eine spätere Verklärung deines äußerlich so trostlosen Studentenlebens geradezu erzwingen. Oder, wer weiß, das Lächeln eines Menschen, der auch diese Verklärung hinter sich gelassen haben wird. Wird er leben und warmes Blut durch seine Adern strömen? Oder wird er eine phantastische Figur bleiben, ein bloßes Ideal deiner Selbst, der Spiegel, den du zerbrichst? Es liegt an dir!

Dein Schicksal

Nie wieder anbeten wirst du die heilige Madonna und in ihr preisend verehren, was du in den Menschen nicht finden kannst. Nie wieder zitieren wirst du, was des Menschen beklommenes Herz zur Tröstung sich schuf. Nie wieder wirst du dich unerkannt rühmen, die Welt mit den Augen eines Buches und also schlecht zu sehen. Und was ist die Bibel anderes als ein Buch? Reiß dir das Papier aus den Augen! Du wirst den Altar der himmlischen Liebe nie wieder mit einem Kranz verschönern, nie wieder eine Kerze in ihrem Namen entzünden, nie wieder ihrer gedenken und danken mit gefalteten Händen. Denn diese Liebe ist gefälscht in deinem Herzen, das nur ein Buch von einem Herzen ist. Breche mit dieser Liebe und deinem Herzen, wie es bisher schlug und vor allem nicht schlug. Richte deine Sinne nicht mehr nach dem Heiligen aus, verliere dich nicht in die Unendlichkeit der Wünschbarkeiten, sondern erziehe dich, den Menschen, wie sie sind, in die Gesichter zu schauen, ohne zu erröten. Dein Schicksal sind die Menschen, diese Menschen.

Unlustveredelung

Wo immer man hinkommt, überall sind die Menschen irgendwie hysterisch und nervös. Jeder will sein Leben ändern. Ob mit Esoterik, Psychologie oder Buddhismus - immer geht es darum, seine gekränkte Seele zu verarzten und sich für den Konkurrenzkampf fit zu machen. Nur mir nicht, denn ich gönne mir die Delikatesse eines mangelnden Selbstbewusstseins. Es bereitet mir eine überirdische Freude, mich in meinem Kummer bequem einzurichten. Wenn dann noch ein wenig Selbstgefälligkeit hinzutritt, bin ich eigentlich vollkommen; freilich auf eine Weise, die äußerst zerbrechlich ist. So ein mangelndes Selbstbewusstsein lebt eben gefährlich; Ermunterung lauert an jeder Ecke. Kulturgeschichtlich virulente Entitäten wie Melancholie, Tiefe, Weltschmerz oder das Phänomen der christlichen Selbstkasteiung lassen die Innovationskraft des mangelnden Selbstbewusstseins erahnen. Dies ist nur scheinbar ein Paradox, denn gerade der Mensch, der nicht den Anschluss findet und an seiner Unverstandenheit leidet, hat es geradezu nötig, neue Formen des Denkens und Fühlens auszuprobieren. Wenn ihm die Möglichkeiten wirklicher Einflussnahme fehlen, muss er eben seine Innerlichkeit, die ihm niemand nehmen kann, aufwerten, verfeinern und kultivieren. Nicht Lustbefriedigung ist ihm sein Ziel, sondern Unlustveredelung.
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