Samstag, 20. Februar 2010

Berlinale 2010: „Double Tide“ von Sharon Lockhart – ohne Worte

Glamour, Glitzer, Stars und Sternchen, Leonardo di Caprio, Martin Scorsese und viele mehr live in Berlin auf dem roten Teppich. Das ist die Berlinale, und so lieben wir sie. Aber das ist nur ein Teil der Berliner Filmfestspiele. Es gibt auch einen weniger glamourösen, ruhigeren Teil. Und für diesen braucht man nicht immer viele Worte – wie im richtigen Leben. Aber ganz ohne Worte? Und nicht im ironischen Sinne, sondern tatsächlich ohne einen einzigen Dialog, eineinhalb Stunden lang? Ja, liebe Kinogänger, das erwartet Euch beim Berlinale Forums-Beitrag „Double Tide“ von der Amerikanerin Sharon Lockhart, die sich, wie auch in ihren drei vorherigen Filmen, mit dem Thema „Arbeit“ beschäftigt. Der Inhalt ihres aktuellen Streifens ist schnell erzählt: Eine Muschelsammlerin watet bei Ebbe durchs Watt, zieht ihren schweren Arbeitskarren hinter sich her, und sammelt Muscheln. 45 Minuten lang morgens bei Sonnenaufgang und 45 Minuten lang abends bei Sonnenuntergang. Ein Gesicht erkennt man nicht. Die Arbeit scheint wirklich anstrengend zu sein: für jede Muschel muss sich die Sammlerin bücken, ihren Arm ins Watt bohren, und mit einem schmatzenden Geräusch die Muschel schnappen und in den Korb legen. Währenddessen verändern sich die Lichtverhältnisse, die Frau schleppt und das Watt schmatzt und sie schleppt und es schmatzt. Als Highlight läuft plötzlich ein Wasservogel ins Bild und die Vögel zwitschern.

Double Tide (Quelle: berlinale.de)
doubletide

Es dauert eine beträchtliche Weile, um sich mit dieser Atmosphäre anzufreunden. Man rutscht auf dem Kinosessel hin und her, schwankt zwischen Kino verlassen und Film zu Ende schauen. Aber wer Sitzfleisch bewiesen hat, wird belohnt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem der Film plötzlich etwas Beruhigendes, ja Romantisches hat. Ein bisschen wie eine Kaminfeuer DVD. Man schaltet ab vom hektischen Alltag und lässt sich plötzlich auf das ein, was da auf der Leinwand passiert. Man entwickelt von Minute zu Minute mehr Liebe fürs Detail. Man sieht, wie sich die Bäume im Licht verändern; man nimmt Tropfen wahr, die in Pfützen fallen und Kreise ziehen. Und kaum hat man sich darin verloren und die Hektik des Alltags vergessen, verlässt die Frau das Bild, als ob sie aus dem Rahmen eines Gemäldes einfach rauslaufen würde. Dann ist alles dunkel. Zaghaftes Klatschen, wie es bei den Berlinale Vorstellungen üblich ist.
Es fühlt sich an, als wäre man aus einem Traum aufgewacht. Aber es war kein Traum. Und das Kino war sogar noch gefüllt. Nur vereinzelt haben Besucher den Saal verlassen. Die meisten warten tatsächlich noch gespannt auf die Regisseurin und die Darstellerin, die im Anschluss an die Vorführung ein öffentliches Interview geben sowie für Zuschauer-Fragen zur Verfügung stehen, wie es bei den Berlinale Aufführungen Usus ist. Die Muschelsammlerin ist in Wirklichkeit jung und lustig – im Film stellt man sie sich eher älter und introvertiert vor. Aber sie ist wirklich authentische Muschelsammlerin. Keine Schauspielerin. Ich hätte sie gerne gefragt, was das für Muscheln sind und ob sie davon leben kann. Aber zwischen all den pseudo-intellektuellen Zuschauerfragen kam mir meine zu profan vor. Zudem hat sich ein unglaublicher Sprechzwang in mir aufgestaut. Ich musste mich erlösen und dann doch noch vor dem Ende der Diskussion den Saal verlassen. Das richtige Leben hatte mich wieder! Sprechende Menschen, hupende Autos und bellende Hunde! Yes! Und dazu das Wissen, einen Film gesehen zu haben, den nur wenig andere kennen und sicher auch nicht viel mehr kennenlernen werden, weil es die Beiträge aus dem Internationalen Forum des Jungen Films – kurz Forum –nur selten ins Kino oder in die Verleihe schaffen. Das gefällt mir an der Berlinale!

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